Die Sehnsucht nach dem Eis - Im Scoresbysund (II)
Heutzutage, in der von Menschen ernannte und geschaffene Superlative sich einander in schneller Folge zu überbieten scheinen, werden die von der Natur über Jahrmillionen gestalteten oft auf einen Nebenschauplatz verwiesen - noch dazu, wenn sie nicht für einen leicht erreichbaren Instagram Spot taugen.
Eines dieser wenig bekannten Meisterwerke natürlicher Landschaftsgestaltung ist der Scoresbysund an der Ostküste Grönlands. Die grönländische Bezeichnung „Kangertittivaq“ (Großer Fjord) lässt kaum vermuten, dass sich dahinter das größte Fjordsystem unserer Erde verbirgt. Umgeben vom grönländischen Eisschild zur Landseite, von der Grönlandsee zur anderen, ähnelt der Fjord einem gewaltigen uralten Baum mit einer weit verzweigten Krone oder einem höchst ästhetischen fraktalen Kunstwerk.Der Scoresbysund umfasst ein Gebiet von über 38 000 km2, was vergleichsweise einer Gesamtfläche der Bundesländer Sachsen und Sachsen Anhalt entspräche. Von seinem Hauptstamm zweigen zahllose „kleinere“ Fjorde ab, deren längster immerhin 110 km ins Landesinnere reicht. Jeder dieser Fjordarme hat seinen Charakter, ist einzigartig in seiner Schönheit und unverwechselbar. Daher kann der folgende kurze Exkurs nur sehr unvollkommen ihrer landschaftlichen Schönheit gerecht werden.
Das erste, was man erblickt, wenn man sich dem Ende des fast 50 km breiten Hauptstammes nähert sind Bjørneøer - die Bäreninseln mit ihren charakteristischen Silhouetten, die wie das versteinerte Pendant der davor schwimmenden Eisberge wirken.
Immerhin bekamen sie den Namen Bäreninseln, weil auf eben jener Expedition hier ein Eisbär erlegt wurde.
Atemberaubend öffnet sich südwestlich der Bäreninseln der schmale Øfjord (Inselfjord) - wie ein Tunnel in die verwunschene Welt der inneren Fjorde
In den frühen Morgenstunden liegen die Wolken einer eiskalten Nacht noch schwer zwischen den Bergen und erlauben nur eine vage Andeutung der unter ihnen verborgenen Kulisse.
Ab und an gestattet uns der nur zögerlich weichende Nebel einen Blick zu den Gipfeln, die schon längst von der Sonne gewärmt werden.
Erst nach Stunden – gegen Mittag - offenbart sich uns die gesamte majestätische Szenerie der uns umgebenden gewaltigen Felsmassive.
Am imposantesten unter ihnen ist die Grundvikskirken – ein fast 2000 m hoher senkrechter Quarzmonzonit Felsen, der in seiner Gestalt einer bekannten Kirche Kopenhagens ähnelt.
Immer wieder schlängeln sich Gletscherzungen aus über 1000 m Höhe wie der kalte Atem eines sterbenden Drachens dem Wasser entgegen.
Je weiter wir nun durch den eisigen „Schneesund“ in die Tiefen des Fjords gelangen - umso mehr verästeln sich die Wasserwege - immer ferner scheint unsere gewohnte Welt.
Dort, wo die Ausläufer des Meeres von der Landmasse gestoppt werden, kann man den großen Gletschern ganz nah sein – wie z.B. im Harefjord – dem Hasenfjord, dessen Namenspatron, wie unschwer zu vermuten, der Schneehase ist. Dieser stellt übrigens ganzjährig sein weißes Fell zur Schau, im höchst fatalen Vertrauen darauf, dass er zwischen den leuchtend bunten Farben des Herbstes gut getarnt sei.
Denn wer glaubt, Grönland sei ausschließlich von Eis und Schnee bedeckt, irrt. Zumindest in den schmalen Küstenbereichen gibt der Frost in den 2 Monaten, die zugleich Frühling, Sommer und Herbst verkörpern ein Stück des Bodens frei und den wenigen, aber robusten Pflanzen für kurze Zeit eine Chance, sich zu entfalten. Wobei „entfalten“ wohl übertrieben scheint, wenn man bedenkt, dass die Birken hier nur eine Höhe von wenigen Zentimeter erreichen.
Kurz bevor der unbarmherzige, lange dunkle Winter Einzug hält, explodieren die Farben und ein bunter Flickenteppich aus Moosen, Zwergbirken, roter Bärentraube und Heidekraut bedeckt den kargen Untergrund.
Der dem Harefjord benachbarte Rypefjord (Schneehuhnfjord) bietet Moränenlandschaften vom Feinsten- und natürlich Schneehühner vor bester polarer Kulisse.
Mit etwas Glück kann man hier nicht nur gefiederte Wesen, sondern auch friedlich grasende Moschusochsen beobachten, die wohltuende Stille der grandiosen weiten, einsamen Landschaft mit allen Sinnen genießen oder Zeuge der formenden Kräfte des Eises sein.
Ein Naturerlebnis der besonderen Art bietet der Rødefjord – der Rote Fjord.
Je nach Laune lässt das Licht die Berge und Felswände in kaltem Rot oder in einem satten Orange erstrahlen.
Wären da nicht die allgegenwärtigen Eisberge, könnte man glauben, über Nacht am Ayers Rock oder in Arizona gelandet zu sein.
Die bunten Berge wirken wie ein kleines Wunder in der von kühlen Farben beherrschten Eiswüste - dabei sind sie nur das Ergebnis "schnöder" chemischer Prozesse - der Oxidation und Verwitterung Eisen haltiger Mineralien - aber das immerhin seit ihrer Entstehung vor ca. 300 Mio Jahren..
Noch viele Naturwunder gibt es auf der Reise durch den Scoresbysund zu entdecken, wie z.B. in der „Wikingerbucht“, wo sich bizarr geformte Wände aus ockerfarbenen Basaltsäulen zu einem Reigen mit bunten Pflänzchen vereinen und der Bredegletscher in direkter Nachbarschaft einen gewaltigen Teppich aus geborstenem Eis in kühlen Farben auf das türkisfarbene Wasser legt.
Voller Demut und Dankbarkeit nehmen wir Abschied - glücklich - dass wir einen Blick in diese geheimnisvolle Welt werfen durften, bevor sich der Nebel wieder über die verborgenen Schätze des Scoresbysund senkt.